Hochsensibel: Lass mir Zeit!

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Wir sind in der Spielgruppe. Ein liebevoll hergerichteter Raum, reduziert, mit kleinen Körben, Holzspielsachen in der Mitte und am Rand. Das Licht ist ein wenig gedämpft und warme Erdtöne umgeben uns. Sofort fühle ich mich wohl und geborgen. Stille. Ruhe. Es duftet nach Mandarine aus dem Aroma-Diffuser. Eine einladende Umgebung, reizreduziert und dennoch voller Vielfalt. Meine Erwartung war, dass du voller Begeisterung loskrabbelst und diesen Raum für dich entdeckst. Aber es wird ganz anders: Du sitzt wie immer auf meinem Schoß während die anderen Kinder fröhlich durch den Raum krabbeln und ein Spielzeug nach dem anderen erkunden, abschlecken, schütteln, werfen.

Die Situation ist für mich unerträglich und nur schwer auszuhalten. Du sitzt „nur“ bei mir und beobachtest, schaust, bist ganz ruhig und ganz bei dir. Immer wieder kuschelst du dich zu mir, versteckst dein Gesicht bei mir, drehst dich weg. Ich verstehe dich nicht. Warum kannst du nicht so Spaß haben wie die anderen Kinder? Meine Versuche dich zu motivieren, zu leiten oder zu lenken werden von der Kursleiterin unterbrochen. Sie bittet mich, dir Raum zu geben. Sie hat deine Besonderheit schnell erkannt und erteilte mir eine Aufgabe: Meine Aufgabe ist es, dich einfach nur Sein zu lassen. Dich zu beobachten, aber nicht einzugreifen. Es fiel mir schwer dich nicht einzuladen „Schau, magst du nicht einmal….:“ – Nein. Heute bin ich dieser Kursleiterin so dankbar, denn sie hat mir den Weg gezeigt, was du brauchst und wie ich an mir arbeiten kann. Ich lernte dich einfach anzunehmen, so wie du bist und dadurch lernte ich dich erst richtig kennen. Du bekamst in der Spielgruppe eine vorbereitete Umgebung und die Zeit, diesen Raum jede Woche neu für dich zu entdecken. Und so wie du den Raum entdeckt hast, habe ich dich entdeckt. Nur durch Beobachtung.

Beobachten, um zu verstehen

Wenn wir unser Kinder kennenlernen und verstehen wollen, dann helfen uns dabei keine Ratgeber. Es hilft auch nicht, wenn wir unsere Kinder vergleichen oder uns sagen lassen, was wir tun sollen oder wie unser Kind zu sein hat.

Jedes Kind ist.

Jedes Kind ist anders.

Wenn wir unsere Kinder wirklich kennenlernen wollen, dann müssen wir sie beobachten. Und das ist ungewohnt. Das war es auch für mich in der Spielgruppe. Es ist ungewohnt einfach nur zu beobachten, statt viele Dinge gleichzeitig zu tun. Erinnere dich einmal: Wann hast du dich zum letzten Mal einfach zu deinem Kind gesetzt und es beobachtet? Diese wichtige Zeit für unsere Beziehung nehmen wir uns viel zu selten. Stattdessen kochen wir noch, hängen die Wäsche auf und spielen am Smartphone – unser Kind ist zwar in unserer Nähe, aber wir sind nicht wirklich da.  Aber nur wenn wir den Zustand des Beobachtens wieder in unser Leben integrieren und wieder zur Ruhe kommen, können wir uns ganz auf unser Kind einlassen, es kennenlernen und verstehen. Je öfter wir uns diese bewussten Zeiten nehmen, desto häufiger kehren wir zu einer Langsamkeit zurück. Es sind oft nur kleine Bewegungen, eine kleine Geste, eine Veränderung der Mimik, die uns zeigt, wer unser Kind ist, wie es sich fühlt oder was es braucht. Wochenlang bist du einfach nur bei mir gesessen, ehe du die ersten zaghaften Versuche unternahmst, das Spielzeug für dich zu entdecken. Immer darauf bedacht, in meiner Nähe zu sein. Ich lernte, dass du deinen ganz individuellen Weg hast den du gehst und den ich nicht beeinflussen kann, wenn ich dich bedingungslos lieben möchte.

Dich nicht zu formen, nicht in deine Persönlichkeit einzugreifen, sondern dich annehmen wie du bist, mit deiner besonderen Gabe, deiner besonderen Fähigkeit fiel mir nicht immer leicht. Ich legte meine Erwartungshaltungen ab und versuchte, ganz offen und neugierig auf dich und deinen Weg zu sein. Und je mehr Erwartungen ich ablegte, je mehr ich akzeptierte, dass du so bist wie du bist, desto mehr Möglichkeiten eröffneten sich mir. Du bist einzigartig. Ich möchte dir die Möglichkeit geben so zu sein, wie du bist, deine Entwicklungen zu Ende zu leben, dir Zeit zu nehmen für dich und deinen Flow, für dein Wachsen, um dann gestärkt in eine nächste Phase zu gehen.

Du hast deinen ureigenen Weg, das habe ich gelernt. Und darauf vertraue ich.

Jeder sollte so sein dürfen, wie er ist. Immer. Aber noch immer fällt es mir im Alltag nicht leicht, mich darauf zu besinnen und mit der Achtsamkeit zu leben, die ich gerne meinen Kindern geben möchte. Oft sind es eine Erwartung, ein Gedanke, eine Unachtsamkeit und ich verfalle wieder in alte Muster:

Ohne darüber nachzudenken griff ich nach dem Reißverschluss und machte ihn zu, ohne ein Wort zu sagen. Eine ganz alltägliche Situation– aber eine, bei der mir wieder bewusst wurde, wie oft ich dich im Alltag zu einem Objekt mache, etwas an dir zurechtzupfe, dir dein T-Shirt richte oder eben nur einen Reißverschluss schließe.

Ja, es fällt mir schwer, manchmal nichts zu tun, dir einfach nur zuzusehen, dich sein zu lassen, ohne einzugreifen, dich anzuleiten oder zu lenken. Auch nach vielen Jahren des Mama-Seins ertappe ich mich immer noch dabei, dass ich öfter in dein Leben und dein Sein eingreife, als es mir lieb ist.

 

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