Ich liege neben meiner Tochter im Bett und schaue sie an. 8 Jahre ist sie schon. War es nicht erst gestern, als ich sie zum ersten Mal im Arm hielt? Ich habe das erste Sehen, das erste Riechen, das erste Spüren noch so genau vor Augen. Wenn ich daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Dieser Moment hat mein ganzes Leben verändert. Wenn ich sie heute anschaue, dann sehe ich ein Mädchen, das unglaublich gerne lacht, offen und neugierig auf die Welt ist, das selbstbewusst ist, das gerne mit ihren Freunden spielt und manchmal sehr laut und wild ist. Unvorstellbar, dass sie vor 8 Jahren noch so klein und hilflos war.
Ich erinnere mich auch an all die kritischen Stimmen: Du verwöhnst sie, wenn du sie im Familienbett schlafen lässt. Du verziehst sie, wenn du sie nur trägst. Sie wird dir auf der Nase herumtanzen, wenn du ihr nicht zeigst, wer „der Herr im Haus“ ist und ihr Grenzen setzt. Du verweichlichst sie, wenn du sie immer gleich tröstest. Jetzt wird es aber mal Zeit, dass sie durchschläft – wie lange willst du dir das noch gefallen lassen?
Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel. (Goethe)
Heute ist sie groß und selbständig. Sie schläft im Geschwisterbett, wird nicht mehr getragen, aber noch gerne in den Schlaf begleitet. Sie ist ein sehr achtsames und empathisches Kind geworden, das immer für die Anliegen anderer ein offenes Ohr hat. Sie ist eine wunderbare Zuhörerin und ich diskutiere gerne mit ihr über Regeln, die wir vereinbaren und entdecke so immer wieder, wie sinnlos sie dann manchmal sind. Jeden Tag wurde sie ein Stückchen größer. So richtig habe ich das gar nicht mitbekommen. Heute liege ich nach einer Woche Klassenfahrt wieder neben ihr im Bett, streichle sie und begleite sie in den Schlaf, weil sie „Mama-Liebe“ auftanken muss. Und ich genieße es, sie wieder zu spüren, zu riechen und mir von ihr erzählen zu lassen, was sie alles auf ihrer ersten Klassenfahrt erlebt hat.
Loslassen ist gar nicht so leicht
Ich erinnere mich an die Zeit der Eingewöhnung im Kindergarten. Es ist mir so schwer gefallen, sie nach und nach alleine zu lassen – nicht, weil ich der Pädagogin nicht vertraut hätte, sondern weil es ein Stück Abnabelung bedeutete (die mir sichtlich schwerer fiel als ihr). Aber wir beide haben es geschafft. Schon damals wusste ich, dass ich in sie vertrauen kann. Und vor allem: Ich kann es ihr zutrauen. Wir haben ihr Wurzeln gegeben, so gut wir konnten. Als sie dann in die Schule wechselte war ich diejenige, die ein wenig traurig und wehmütig war. Sie, sie schritt selbstbewusst und stolz mit der Schultüte in der Hand in den Klassenraum. Sie fühlte sich sofort wohl. Verschwunden war das schüchterne, zurückhaltende Mädchen. Als sie zum ersten Mal alleine von der Schule nach Hause kam erlebte ich die längsten zehn Minuten meines Lebens und ich wartete nur auf eine Schreckensnachricht im Radio, dass irgendwo ein Kind am Schulweg überführt wurde. Sie kam voller Stolz nach Hause. Sie schaffte es alleine.
„Manchmal wünsche ich mir, ich könnte das Bild einfrieren und vor der Zeit bewahren“ (Abba)
Warum ich das nun schreibe? Weil das Loslassen ganz schön schwer ist – vor allem für uns Eltern. Ihre Wurzeln haben ihr geholfen, zum ersten Mal ihre Flügel auszubreiten und die ersten zaghaften Flugversuche zu unternehmen. Manchmal hatte sie Startschwierigkeiten und konnte nicht gleich wegfliegen, manchmal flossen ein paar Tränen. Doch dann war ich da, um sie aufzufangen. Dieses Mal hat sie ihre Flügel nicht nur ausgebreitet, dieses Mal flog sie davon. Selbstsicher und stark mit viel Vertrauen, Zuversicht und Vorfreude im Rucksack. Ja, ich hatte Angst, sie gehen zu lassen. Aber ich konnte meine Ängste für mich behalten. Ich habe ihr vertraut und sie fliegen lassen. Ein wenig stolz bin ich heute Abend auf uns beide.
Loslassen und bei Bedarf unterstützen – das ist es, was Kinder brauchen.
Ein lachendes und ein weinendes Auge
Ich schaue sie an und bin dabei von Stolz erfüllt. Es ist ein tolles Gefühl sie aufwachsen zu sehen, sie auf ihrem ganz eigenen Weg zu begleiten, immer wieder die Wurzeln zu stärken, sie zu gießen. Mein anderes Mama-Auge weint aber auch ein Stück der Zeit hinterher, in der sie auf meine Hilfe angewiesen war und mich 24 Stunden um sich haben wollte.
Loslassen beginnt nicht erst dann, wenn sie die Umzugskartons gepackt hat und sagt „Mama, ich ziehe jetzt zu meinem Freund“ (Ahhhhh), sondern es beginnt jetzt. Es beginnt schon immer. Es begann nach der Geburt, als die uns verbindende Nabelschnur getrennt wurde, als sie sich der Welt geöffnet hat und jeden mit ihrem Lächeln verzaubert hat, als sie zum ersten Mal am Nachmittag bei der Oma blieb, zum ersten Mal alleine eine Tür öffnen konnte, in den Kindergarten ging, bei einer Freundin übernachtete, alleine in die Schule ging und eigene Entscheidungen trifft. Dann wenn sie mich braucht, dann gebe ich ihr was sie braucht. Unsere Momente der Nähe sind weniger geworden, dafür wurden sie intensiver und andere Rituale haben das 24-Stunden-Intensiv-Kuscheln abgelöst. Noch immer spüre ich die Magie der nonverbalen Kommunikation –dann, wenn Berührungen und Blicke mehr sagen als 1000 Worte. Dann ist er wieder da, dieser magische Moment und diese tiefe Verbundenheit, die sie durch ihr Leben tragen werden.
Irgendwann schlafen Kinder durch, laufen nicht mehr an der Hand, wollen nicht mehr gestillt oder gefüttert werden. Irgendwann sind die Zeiten vorbei, wo Mama noch cool war, wo abends im Bett gekuschelt und rumgealbert wird. Auch wenn es Tage gibt wo mir alles zu viel wird, ich möchte diese wertvolle Zeit nicht missen. Auch wenn wir es manchmal nicht erwarten können, dass sie endlich groß und selbständig werden ist die Zeit, in der unsere Kinder uns so intensiv und nahe brauchen, ein Geschenk. Und ich wünsche allen Eltern, dass sie dieses Geschenk annehmen und schätzen können. Bauen wir mit unseren Kindern ein sicheres Fundament für ihre Wurzeln, damit sie voller Sicherheit und Selbstbewusstsein ihre ersten Flugversuche unternehmen können.