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Ist dir etwas aufgefallen? Heute arbeiten wir kürzer denn je, wir bekommen mehr Urlaub und haben jede Menge Maschinen im Haushalt, die uns bei der Arbeit helfen. Ach ja, und praktischerweise müssen wir nicht einmal aufs Feld um unser Mittagessen zu ernten oder gar ein Tier schlachten, sondern es dauert gerade mal ein paar Minuten, bis wir beim Supermarkt um der Ecke alle nötigen Lebensmittel und noch mehr gekauft haben.
Aber komisch ist, dass sich jeder irgendwie chronisch überfordert fühlt: Mit dem Job, den Kindern, seiner Freizeit, ja sogar mit dem Urlaub. Ist das nicht irgendwie komisch?
Es reicht!
Neulich im Baumarkt. Samstag, knapp 9.30 Uhr. Wir waren mit unseren drei Kindern dort. Gedränge, Geschubse, unfreundliche Blicke – ob es wohl etwas gratis gibt? Nein. Es war ein normaler Tag. An der Kassa warten wir also mit unseren drei Kindern, vor uns auch ein Paar mit zwei Kindern. Die beiden machten einen irrsinnig genervten Eindruck auf mich, irgendwie abgehetzt und fertig. Die Kinder, ich schätze mal 4 und 2 Jahre alt, waren eben Kinder: Wollten nicht mehr warten, sie ärgerten einander, ein Kind weinte, das andere raunzte. Ihnen war langweilig. Plötzlich schnauzte der Vater seine Kinder an: Es reicht mir heute schon! Schluss jetzt! Seine Frau/Freundin/Mutter seiner Kinder drehte sie zu uns um und meinte nur: Sie kennen das ja.
Ja, ich verstand sie. Es gibt diese Tage. Vor den Kindern konnte ich mir es auch nicht vorstellen, dass man schon um so eine Uhrzeit „Es reicht!“ sagt. Heute weiß ich es besser. Wir kamen dann ein wenig ins Gespräch und ich hörte heraus, dass sie an ihrem Haus gerade umbauen, einen Garten haben, dazu noch jeder einen Job, die zwei Kinder, Freunde, Hobbys und ein Auto, das noch abbezahlt werden musste. Sie hatten also alles, was sie viele Menschen unter einem erfüllten Leben vorstellen. Und dennoch war nach diesem kurzen Plausch klar (und ja, sie hatte Auskotzbedarf, weil warum erzählt man einer wildfremden Person gleich die halbe Lebensgeschichte), dass sie völlig gestresst waren.
Früher war alles besser anders
Dann denke ich an meine Großmutter, die fünf Kinder hatte, einen großen Hof, Felder, die bewirtschaftet werden wollten, die ihre Wäsche noch per Hand wusch, die Kühe melken musste, die Tiere verpflegte, dazwischen noch kochte, den Garten pflegte, einen Kuchen für die Nachbarin buk und immer ein Lächeln auf den Lippen hatte, auch wenn ihr Tag manchmal 15 Stunden und mehr hatte. Meine Großmutter hatte keinen Urlaub, keine Auszeit, keine Gleitzeit und auch keinen Zeitausgleich. Aber sie war zufrieden.
Und was habe ich heute? Staubsauger, Geschirrspüler, Waschmaschine, ich habe Urlaubsanspruch, Zeitausgleich, einen Eierkocher und sogar eine Putzfrau, die meine Fenster 3 Mal im Jahr putzt. Genau das haben aber auch viele andere Menschen – mit einem Unterschied: Sie haben das Gefühl, die Last der Welt alleine auf ihren Schultern tragen zu müssen. Von Zufriedenheit kann da keine Rede sein. Ich behaupte mal, dass das Leben damals härter war. Viel härter. Teilweise habe ich es noch miterlebt und mitgeholfen bei der Ernte, beim Waschen, im Garten. Aber: Es war auch übersichtlicher. Der Tag war strukturiert – so habe ich es erlebt. Es gab Pausen und es gab die Arbeit. Bei uns hingegen gibt es Arbeit und Freizeit – und die Freizeit nimmt immer mehr zu. Dabei hat Freizeit nicht unbedingt etwas mit Pause zu tun, sondern das Gegenteil ist der Fall. Freizeit ist nur die Illusion von freier Zeit.
Die Illusion der Freizeit
Diese freie Zeit wollen wir natürlich zu nutzen wissen und verplanen sie mit vermeintlichen Dingen, die uns gut tun: Shoppen, Sport, Verabredungen etc. Wir haben das Gefühl, aus einem Moment immer das Beste herausholen zu müssen, weil wir heute die Möglichkeit dazu haben. Dabei könnten wir ihn auch einfach nur genießen. Macht es uns denn wirklich glücklicher, wenn wir das 13. Paar Schuhe kaufen oder eine neue Kaffeemaschine, nur weil der Milchschäumer angeblich besser ist? Wohl kaum. Machen uns teure All-inclusive-Urlaube wirklich glücklich oder hetzen wir nur der Illusion nach dem perfekten Leben nach?
Ich weiß, dass meine Großmutter glücklich war. Sie hatte wenig Besitz. Ihre Kleidung trug sie jahrelang, sie besaß nur drei Paar Schuhe. Sie wohnte in ihrem Elternhaus mit den Möbel, die sie vor 65 Jahren kaufte. Sie hatte einen Fernseher, aber einen alten. Kein Smartphone, kein Tablet, keinen Computer, keinen Laptop, kein Amazon. Ihre Kinder trafen sich am Nachmittag mit ihren Freunden auf der Straße. Sie hatten keine Kurse. Meine Großmutter hatte Arbeit und sie hatte wirkliche Pausen. Ich sehne mich manchmal nach diesem Leben und arbeite an mir, mich diesem Druck zu entziehen.
Ohne Burnout fühlen wir uns schlecht
Heute habe ich jedoch das Gefühl, dass wir uns schon fast schlecht fühlen, wenn wir nicht kurz vom Burnout stehen. Dann haben wir nicht genug geleistet und glauben, auch die letzte Luft nach oben noch verbrauchen zu müssen. Was würden denn die anderen denken, wenn wir glücklich und ausgeglichen wären? Wie ich auf diesen Gedanken komme? Ich habe es selbst erlebt: Der Dezember war stressig: Viele Termine, ein Kindergeburtstag, viele Erledigungen und Verabredungen und dazu drei Kinder, die alle keine gute Phase hatten, sich im Kranksein abwechselten und schon sehr „ferienreif“ waren. Dazu noch viele Adventfeiern in Schule und Kindergarten, Weihnachtsstunden in der Musikschule, Elternsprechtag, Kekse backen. Im Kopf schwirrten mir viele Gedanken rund um die Weihnachtsvorbereitung. Stress hoch 3. Ich war schlecht gelaunt und mein Nervengerüst eher dünn besiedelt.
Und dann sagte ich: STOP! Ich wollte mich da nicht mehr stressen lassen, ich wollte mir Raum schaffen und Raum geben. Erst als ich meine eigene Einstellung änderte, kehrte bei uns Ruhe ein. Ich habe Aufgaben abgegeben. Warum muss ich bei jedem Konzert der Kinder dabei sein, wenn sich auch die Großeltern darüber freuen? Warum hetze ich auf der Suche nach dem perfekten Geschenk von Geschäft zu Geschäft, wenn ich auch ein selbstgemachtes verschenken kann?
Mit der Ruhe kam das schlechte Gewissen
Aber mit der Ruhe kam auch das schlechte Gewissen: Andere Mütter schaffen den Spagat zwischen Elternsprechtag-Konzerten-Geschenken-Arbeiten –und-perfektem-Weihnachtsambiente doch auch. Warum ich nicht? Ich fühlte mich, als hätte ich versagt. Und es war gar nicht daran zu denken, die Ruhe auch zu genießen. Und wenn mir dann andere Mütter im Kindergarten von ihrem Stress erzählten, dann fühlte ich mich erst recht schlecht. Dabei habe ich ja nicht nichts getan, sondern mir nur Luft gemacht, um Zwischendurch auch mal durchzuatmen.
Es ist schon verrückt. Irgendwie sehen wir uns alle nach mehr Ruhe und wenn wir dann mehr Ruhe haben, können wir sie nicht genießen, weil uns das schlechte Gewissen plagt. Für 2018 ist es ein guter Vorsatz, sich öfter einmal Ruhe zu gönnen, sie bewusst anzunehmen und sie zu genießen. Statt immer nur zu sehen, was man deswegen nicht geschafft hat, könnte man auch stolz auf sich sein, dass man mal einen Gang runtergeschalten hat.
Oder wie es Tommy Jaud sagen würde: Einen Scheiß muss ich!